Gerhard

Dollinger

Frau Koch,

die hundertjährige Alte

   
Mein Freund Günter und ich studierten in Danzig in dem Jahr, als Österreich »heim ins Reich« geholt wurde. Beide waren wir Werkstudenten in Leipzig gewesen. Bevor unser Studium zu Ende ging, wollten wir uns einmal wenigstens ein Semester gönnen, wo wir nur studieren und daneben unser Leben genießen konnten. Sommer am Ostseestrand, baden, segeln, die wundervolle alte Hansestadt als Kulisse - das hatten wir uns herrlich und romantisch vorgestellt.
Wir fanden Quartier bei einer reizenden älteren Dame, die, uns so sehr verwöhnte, daß wir uns immer fragten, wie sie dabei auf ihre Kosten kommen sollte, denn die Miete war billig und die Dame hatte uns gesagt, daß das Zimmervermieten fast ihre einzige Einnahmequelle sei. Mittwochs kam sie ungerufen ins Zimmer mit einem Tablett: Kuchen und Schlagsahne,  Bohnenkaffee, alles auf hübschem Geschirr serviert. Auf unsere verwunderte Frage wieso, wir hätten doch nichts bestellt, meinte sie:
»Aber meine Herren, heute ist ein Fest, heute müssen wir feiern, ich lade Sie ein!«
»Was für ein Fest gibt es denn zu feiern?«
»Na doch, den Mittwoch, da wird die Woche geteilt, das müssen wir feiern!«
»Aber liebe Frau Hagemeier, Sie stürzen sich da in Unkosten, das können wir ja gar nicht annehmen!«
»Ach, ich kenne euch Reichsdeutsche! Bohnenkaffee und Schlagsahne geht euch doch über alles!«
Damals waren diese beiden Köstlichkeiten in Deutschland schon rationiert mit dem Ausspruch Görings: «Lieber Kanonen statt Butter!«
Das Studium in Danzig war ein Vergnügen. Danzig hatte keine Volluniversität, sondern eine medizinische Akademie mit nur wenigen Studenten. Daher hatten wir ein sehr nettes und persönIiсhes Verhältnis mit unseren Professoren, die uns, jeden Einzelnen, mit Namen kannten. In unserer Freizeit radelten wir hinaus an den Ostseestrand, wo wir Bernstein-brocken suchten, die wir dann mit einer glühenden Stricknadel durchbohrten, um sie zu Halsketten zusammenzufadeln als Geschenk für unsere Liebsten daheim. Nun kam der große Tag der Abstimmung. Alle Deutschen wurden aufgerufen, zur Wahlurne zu gehen, um dem »Führer« ihr Einverständnis zur Einverleibung Österreichs ins großdeutsche Reich zu geben. Viel mehr noch als alle Deutschen jubelten die Österreicher selbst ihrem Führer - der ja selbst ein Österreicher war - zu mit nicht enden wollenden Sprechchören:
»Heim ins Reich! Heim ins Reich!« (Dieser Spruch sollte bei Kriegsende umgewandelt werden in: »Heim, uns reicht's!«)
Die Danziger selbst durften ja nicht mitstimmen, da sie »freie Städter« waren und nicht zum Deutschen Reich gehörten. Aber wir vielen Deutschen, die in Danzig lebten, wurden aufgefordert, uns am Sonntagmorgen in Zoppot einzufinden, wo uns Motorboote auf ein deutsches Schiff, welches draußen vor der Dreimeilenzone vor Anker lag, bringen sollten. Das Schiff war sozusagen unser Abstimmungslokal.
Der Sonntagmorgen kam; eine unübersehbare Menschenmenge fand sich in Zoppot ein. Außer uns »Reichsdeutschen« war eine große Anzahl neugieriger Danziger gekommen, um dem Schauspiel beizuwohnen.
Wir, Günter und ich, standen wartend in der Menge, bis die Reihe hinauszufahren an uns wäre.
Plötzlich kam Bewegung in die Menge.
»Der Deutschlandsender, angeschlossen alle deutschen Sender« kam und brachte eine Reportage.
»Achtung, Achtung! Jetzt kommt Frau Koch, die hundertjährige Alte!« Auf einer altertümlichen Sanfte, von vier Rotkreuzsanitätern an den vier Holmen getragen, saß ein uraltes winziges, eingeschrumpftes Weiblein, an beiden Seiten von zwei Rotkreuzhelferinnen gestützt, damit sie nicht herunter fiel. Auf dem Kopf trug sie einen altertümlichen Kapotthut, eine ovale Nickelbrille war auf die Nase heruntergerutscht.
Der Kopf wackelte, als ob er jeden Augenblick herunterfallen müßte. »Also, liebe Frau Koch, Sie sind hundert Jahre, ja?«
»Hä?«
»Ja, liebe Hörer, sie sagt, sie sei hundert Jahre!« Vor jeder Antwort der Hundertjährigen hielt er wohlweislich die Hand vor das Mikrofon.
»Und nun sind also auch Sie herbeigeeilt, um dem geliebten Führer Ihre Stimme zu geben, nicht wahr?«
»Hä?«
»Ja, in völliger geistiger und körperlicher Frische ist sie herbeigeeilt, um dem Führer ihre Stimme zu geben!«
»Nicht wahr, Frau Koch, Sie haben es sich nicht nehmen lassen, für Großdeutschland zu stimmen?«
»Hä?«
»Ja, auch sie will ihren Lebenstraum erfüllt sehen, ganz Deutschland vereinigt zu einem großen Reich!«
Die Prozession war bei der Urne angelangt. Frau Koch bekam einen Bleistift in die Hand gedruckt, eine der Rotkreuzhelferinnen führte ihr die zittrige Hand und ließ sie ihr Kreuz an der vorgesehenen Stelle eintragen.
»Und nun, liebe Hörer, kommt der große, der historische Moment, wo Frau Koch, die hundertjährige Alte, dem Führer ihre Stimme gibt! Eben macht sie das Kreuz! Sie hat für Großdeutschland gestimmt! Nun kann sie ruhig sterben, ihr Traum geht in Erfüllung! Nicht wahr, liebe Frau Koch, nun ist Ihr Lebenstraum in Erfüllung gegangen, nun können Sie ruhig sterben?«
»Hä?«
»Ja, sie sagt es selbst, sie kann jetzt endlich ruhig sterben, wo sie ihr liebes, geliebtes Deutschland zu einem einzigen, großen Reich vereinigt sieht! Und damit verabschieden wir uns von unseren Hörern.«
Die gute Frau Koch hatte nichts, aber auch gar nichts von dem verstanden, was um sie herum vorging und was man sie gefragt hatte! Nichts war in ihr Bewußtsein eingedrungen.
Hoffen wir, daß sie trotzdem in Frieden sterben durfte!


 

Und noch 2 kleine drollige Erzählungen von G. Dollinger (mit einer Gravüre von Alexander Antonow)

Die Antrittspredigt

Ein junger Pfarrer hält in einer Dorfkirche seine Antrittspredigt. Mit Bedauern muß er sehen, daß so nach und nach die ganze Gemeinde einschläft. Nur ein Weiblein bemerkt er, das bitterlich in sein Taschentuch schluchzt. »Wenigstens eine Seele habe ich gerührt«, denkt er bei sich. »Aber ich muß doch nachher mit ihr sprechen, daß sie 's sich nicht so sehr zu Herzen nehmen soll.«

Als der Gottesdienst aus ist, wartet er am Portal, bis sie herauskommt und sagt zu ihr: »Es freut mich ja, daß meine Predigt Sie so angerührt hat. Aber Sie brauchen das, was ich gesagt habe, nicht so persönlich auf sich zu beziehen, ich hab's mehr für die Allgemeinheit gesagt.«

»Noi, noi, deswege hab' i net g'heult«, schluchzt sie weiter.

»Ja, warum heulen Sie denn dann so?« »Ha, wisse Se, i bin a arme Witfrau, und i hab' en oinzige Sohn. Den hab' i mit Wäsche und Putze ufzoge. Un jetzt studiert er in Tübinge au Theologie. Un wo i Sie heut' so predige hab' höre, hab' i emmer denke mieße: »Huh, huh, war' des schad' om des schöne Geld, wenn der au emol so en Babb schwätze dät wie Sie!!«

Von dieser Geschichte gibt es auch eine katholische Version: Hier ist es ein Franziskanerpater, der in einer schwäbischen Dorfkirche eine Missionswoche hält. Er hat einen langen Bart, der beim Predigen immer auf und ab wippt. Auch er bemerkt ein altes Weible, das bitterlich schluchzt und will sie, wie jener junge Pfarrer, am Ausgang trösten. Auch sie sagt: »Noi, noi, deswege hab' i net g'heult.« »Ja, warum denn dann?« »Ha, wisset Se, mir isch vorige Woch' mei Geißl verreckt, on die hat no so schee Milch gebe. On wo i Sie no so hab' mit Ihrem Bart wackle seh', hab i emmer an mei arme Geiß denke mieße.«

1 die Geiß (süddeutsch) = die Ziege

Der übereifrige Lehrbub

Herr Himmelberger, ein Schmuckwarenfabrikant, klein und dick, mit Vollmondglatze und sehr humorvoll, erzählt beim Stammtisch:

Da hab' ich doch jetzt so einen übereifrigen Lehrbub, der geht mir direkt auf den Wecker mit seinem ewigen: »Herr Himmelberger, was soll ich denn jetzt mache?« »No machsch halt emol jetzt des un des.« Nach einer Weile kommt er schon wieder und fragt: »Herr Himmelberger, was soll ich denn jetzt mache?« »Ja, bist du denn schon wieder fertig?«

»Ha jo«, sagt er.

»Dann machst halt seil und seil.«

Nach fünf Minuten kommt er schon wieder angerannt und sagt: »Herr Himmelberger, was soll ich denn jetzt mache ?«

»Ja, sag emol, bist denn schon wieder fertig, du Sapperlot ?« »Ha, freile!«

So geht das fort und fort, den ganzen Tag lang, bis mir zuletzt der Geduldsfaden reißt und ich sag': »O Kerle, streck doch dein' Arsch zum Fenster naus!«

Nach einer Weile kommt er doch wieder gerannt und sagt: »Herr Himmelberger, was soll ich jetzt mache?« »Ja, was hast denn jetzt gemacht?«

»Ha, des wo Sie g'sagt henn, mein Arsch hab i zum Fenster nausg'streckt.« »Nein, doch nicht im Ernst?« »Ha freile, Sie henn mi's doch ag'heiße.« »Aber doch nicht da auf die Straße hinaus?« »Doch.«

»Ja sag emol, was habe denn da die Leut g'sagt?« »Gude Dag, Herr Himmelberger, gude Dag, Herr Himmelberger, gude Dag, Herr Himmelberger!«

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