04.11.06

Mensch bleiben

Waltraud Schдlike ьber Marx, das Hotel ФLuxУ, Glauben und Enttдuschungen

 

   

Die Tochter des Grьnders des Dietz-Verlages, Fritz Schдlike, gab bei Dietz ihre Kindheitserinnerungen heraus: ФIch wollte keine Deutsche seinУ   

 

Sie hat ihren Marx grьndlich studiert und nennt sich gemдя einer Marxschen Formulierung in den Feuerbach-Thesen eine ФAnhдngerin der menschlichen GesellschaftУ. Dabei hat sie schon als Kind Unmenschlichkeit hautnah erlebt.

Waltraud Schдlike ist ein Kind des ФLuxУ, des berьhmt-berьchtigten Hotels der Komintern in Moskau. Mit vier Jahren kam die 1927 in Berlin geborene Tochter der deutschen Kommunisten und Antifaschisten Luise und Fritz Schдlike nach Moskau. Mit 22 Jahren befreit sie sich vom ФLuxУ und kehrt der Hauptstadt den Rьcken, ьbersiedelt nach Kirgisstan, lehrt Geschichte und forscht zu Marx. Mit der heute wieder in Moskau Lebenden sprach Karlen Vesper.

 

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ND: Der Jahrestag der Oktoberrevolution steht bevor Ц Marxens Vision einer besseren Gesellschaft sollte sich erfьllen. Hat sich nicht erfьllt. Marx gilt als widerlegt.

Schдlike: Ich glaube an eine Marx-Renaissance. Es geht nicht anders.

 

Wieso nicht?

Weil Marx bis jetzt der einzige Philosoph geblieben ist, der ganzheitlich die Triebkrдfte der Geschichte der Menschheit analysiert hat. Alle anderen haben nur einen Ausschnitt im Blick gehabt: der Eine nur den Schwanz des Elefanten, der Andere nur den Rьssel, und jeder meinte, das sei der ganze Elefant. Und weil schon der junge Marx wie auch der junge Engels wussten, was Kapitalismus bedeutet. Sie kannten dessen durchaus produktiven, aber auch scheuяlichen Seiten. Es roch nach Revolution in Europa ...

 

Heute Фschreien die Verhдltnisse nach RevolutionУ, meint Klaus Staeck. Stimmen Sie dem zu?

Vielleicht stecken wir schon mittendrin. Zumindest nach Marxens Begriff der Epoche sozialer Revolutionen. Sie ist von groяen Wandlungen und Verдnderungen gekennzeichnet. Der Kapitalismus ist in der Krise. Die sogenannte Dritte Welt will nicht mehr so leben, wie ihr aufgezwungen wurde. Es entlдdt sich neuer gesellschaftlicher Explosivstoff. Das ganze Wirrwarr in den Kцpfen ist gesetzmдяig ...

 

Wieder so ein Wort, das heute verpцnt ist. Sie sind noch stark von Marx ФinfiziertУ.

Er ьberzeugt mich, seine Methodik, seine Analyse. Marx und Engels haben keine sklavische Unterwerfung unter ihre Ansichten verlangt. Engels hat sogar einmal, sinngemдя, gesagt: Was wir ьber die Zukunft denken, das ist den nдchsten Generationen wurscht.

Wichtiger ist, дhnlich wie Marx, in die Wirklichkeit hineinzuschauen, um zu erkennen, wo die Probleme liegen und wo sie eventuell schon gelцst oder auf dem Weg einer Lцsung sind. Ich bin davon ьberzeugt, dass die Menschheit bereits eine Wende vollzieht. Egal, ob man sich in Deutschland, in Russland, in Indien oder sonstwo umsieht, ьberall wird man Gemeinschaften entdecken, in denen Menschen menschlich miteinander verkehren, wo nicht Gewinn und Profit alles ist. Solche Gemeinschaften hat es immer gegeben. Sie entspringen einem natьrlichen Bedьrfnis, verbreiten sich kontinuierlich. Eine neue Gesellschaft ist trotz allem schon im Werden.

Ich habe Marxens Arbeiten von 1844/46 studiert: Die neue Gesellschaft wдchst innerhalb der alten. Und fьr ihn war die Internationale nicht nur eine Verkehrsform, sondern eine Gemeinschaft der Solidaritдt fьr die Arbeiter. Also etwas Neues, ganz Anderes. Und auch heute hat jeder Mensch die Mцglichkeit zu entscheiden, wie er in diesem System lebt, das in der Krise ist und Menschen entfremdet. Ob er Mensch bleibt oder nicht.

Das eigentliche Problem ist die Entfremdung der Arbeit. Die meisten Menschen arbeiten nicht aus Freude, sondern, um Gehalt zu bekommen und zu konsumieren ...

 

Millionen Arbeitslose wьrden gern konsumieren ...

... und sie wollen Arbeit, denn das steckt noch im Bewusstsein. Durch Arbeit erwirbt man Achtung. Man versteht nicht, wie man ohne Arbeit leben kann. Dabei kommt der Mensch ohne das Bedьrfnis zu arbeiten zur Welt. Arbeit wird erzwungen, auf diverse Art. Schon Goethe machte einen Unterschied zwischen Arbeit und Schцpfung. Marx ist gerade die Selbstbetдtigung wichtig Ц die den Bedьrfnissen, Fдhigkeiten, Mцglichkeiten des Individuums entspricht.

 

Bringt aber nicht die Frьhstьcksbrцtchen auf den Tisch.

Heute meistens noch nicht. Aber es gibt viele Menschen, die das Prinzip erkannt haben. Auch mein дltester Sohn und meine Schwiegertochter, die sich in Kirgisstan um behinderte Kinder kьmmern, nur mit privaten Spenden. Sie haben keine Reichtьmer, wollen keine. Sie wollen Menschen helfen, die Hilfe benцtigen, haben Freude an ihrer Tдtigkeit, nutzen anderen.

 

Und dieser Art ist der Фneue MenschУ, wie er als ФHomo sovjeticusУ trotz aller Propaganda nicht erschaffen werden konnte?

Die falsche Ausgangsbasis war: ФAlles, was fьr die Gesellschaft gut ist, ist auch fьr dich gut. Und was du selber willst, ist nur gut, wenn es der Gesellschaft nutzt.У So kann kein neuer Mensch entstehen, da streikt der Mensch, da arbeitet er schlecht oder gar nicht.

 

Also ein bisschen Egoismus sollte man jedem lassen?

Natьrlich. Aber ich wьrde das nicht Egoismus nennen, das ist heute ein Negativ-Wort. Ich wьrde von Selbstbewusstsein sprechen, von Identitдt. Du weiяt, was du willst und was du kannst. Du willst glьcklich sein, und du willst, dass die anderen glьcklich sind. Erstrebenswert ist die Harmonie mit dir und allen anderen Menschen. Das meint auch das Kommunistische Manifest mit der wunderbaren Formulierung von der freien Assoziation freier Individuen.

Haben Sie eine solche im Moskauer Hotel ФLuxУ vorgefunden? Wo Familien vieler Nationen eng beieinander lebten, Gemeinschaftskьchen nutzten, gegenseitig auf ihre Kinder aufpassten, keiner ьber den anderen stand.

Im Prinzip ja. Auf jeden Fall im Freundeskreis meiner Eltern. Das ist nicht direkt propagiert worden, dieses freie Zusammenleben entsprach dem Bedьrfnis dieser Menschen, die an den Kommunismus glaubten. Und das war nicht die Nomenklatura, das waren, wie meine Eltern, Arbeiterkinder. Sie wollten die wahre Gleichheit leben.

 

Wenn es in der Komintern zuging wie in einer groяen, netten Familie Ц wie konnte es dann zu den tцdlichen Denunziationen kommen? Gerade im Hotel ФLuxУ.

Ich wьrde nicht von Denunzianten sprechen, denn es gab ja nichts zu denunzieren. Diejenigen, die Menschen ans NKWD ausgeliefert haben, waren Verleumder.

 

Haben Sie das so empfunden?

Dass Sinowjew, Kamenew, Bucharin ФVolksfeindeУ waren, daran haben wir noch geglaubt. ФDenn Stalin ist ein Genie. Gott sei Dank, dass wir ihn haben. Er schlдft nie, das Licht im Kreml brennt die ganze Nacht.У Doch dann sind die guten Vдter meiner Freundinnen verhaftet worden. Meine Mutter sagte: ФSie kommen zurьck, sie sind keine Feinde.У Sie war ьberzeugt, dass unsere sozialistischen Gerichte gerechte sind. Die Vдter kehrten nicht zurьck. Aber der Glaube daran rettete uns, war ein psychischer Schutzmantel, um nicht zu verzweifeln, nicht verrьckt zu werden. Den Gulag ьberlebten vor allem die, die ihren Glauben an Stalin nicht verloren haben. Zweifler zerbrachen.

Ihren Eltern ist zum Glьck nichts geschehen. War Ihnen das als junges Mдdchen den Freundinnen gegenьber peinlich?

Nein. Aber ich hatte natьrlich Angst. Auf den Korridoren im ФLuxУ gab es keine Teppiche. Da waren die lauten Schritte stiefelbewehrter Mдnner zu hцren. Dann das Klopfen. Ich befьrchtete, einmal klopfen sie auch bei uns an.

Es war nicht angenehm, spдter, nach der Wende, gefragt zu werden: ФWarum ist deiner Familie nichts passiert? Was haben deine Eltern getan?У Man sollte sich rechtfertigen, den Terror ьberlebt zu haben! Die Leute wissen ja gar nicht, wie das war: wie bei einer Lotterie. Zufдllig hat es diesen, aber nicht jenen getroffen. Ich habe immer mit der Angst gelebt. Das Leben war gefдhrlich.

 

Auch in poststalinistischer Zeit?

Ja, in Kirgisstan. Auch an unserer Hochschule waren Bestechungen gang und gebe. Um aufgenommen zu werden, um die gewьnschten Noten zu erhalten usw. Bestochen wurde mit Esspaketen, Hammelfleisch, Reis, Zwiebeln, alles was zum Plow gehцrt. Und mit Wodka. Das wurde einem vor die Tьr gesetzt. Ich hatte das zuvor nicht fьr mцglich gehalten. Und kдmpfte dagegen an. An der Wandzeitung und in Theaterstьcken haben wir das angeprangert, frei nach Dante: Die Sьnder kommen mit Paketen. Das wurde uns verьbelt. Ich hatte harte Auseinandersetzungen mit Funktionдren, die meine Unerbittlichkeit in der Sache nicht begriffen.

 

Sie haben, wie in Ihren Erinnerungen zu lesen ist, schon als Kind wider den Stachel gelцckt.

Das habe ich von den Dцrwalds, der Familie meiner Mutter, geerbt. Als Schьlerin meinte ich einmal: ФOb Marx Recht hat oder nicht, muss man erst untersuchen.У Mein Vater bekam einen Schreck, meine Mutter sagte: ФTrautchen hat Recht.У Schlieяlich war es auch Marx' Devise: An allem ist zu zweifeln. Und in meiner Schule, die auch Kinder von Regierungs- und Politbьromitgliedern besuchten, wurden wir zu selbststдndigem Denken erzogen.

 

In tiefster stalinistischer Zeit?

So war es. Und auch Swetlana Stalina hat oft opponiert.

 

Weil sich das die Tochter des Generalsekretдrs erlauben konnte.

Nein. Swetlana Molotowa z. B. tat dies nicht, wollte gern privilegiert behandelt werden. Nicht so Stalins Tochter. Sie ist manches Mal ihren Wдchtern ausgerissen und allein mit dem Trolleybus zum Kreml gefahren. Das hat uns begeistert. Sie war so lebendig und frцhlich. Ganz anders wдhrend des Studiums in Moskau, an der historischen Fakultдt der Lomonossow-Universitдt; wir waren in einer Studiengruppe. Da war sie sehr schweigsam. Eingeschьchtert oder klug? Ich weiя es nicht. Sie schwieg jedenfalls, als ich wegen ФVerbreitung von SkepsisУ eine Фletzte VerwarnungУ erhielt. Aber als ich im letzten Studienjahr sogar aus dem Komsomol ausgeschlossen und von der Uni relegiert werden sollte, da hat sie interveniert.

 

Und warum verbannten Sie sich selbst dann nach Mittelasien?

Als ich nach der Rьge heulend im Flur stand, kam zwar der halbe Kurs, der eben gegen mich gestimmt hatte, zu mir, umarmte und trцstete mich. Auch der Komsomol-Vorsitzende. Das war sicher gut gemeint, fьr mich aber war das psychische Folter. Deshalb wollte ich nach dem Diplom so schnell wie mцglich weg aus Moskau.

 

Sie lehrten in Frunse, als Chruschtschow seine Enthьllungen ьber Stalin kundtat. Eine Schock?

Chruschtschowss Rede wurde im Kreis der Pдdagogen verlesen. Wir sollten zustimmen. Ich konnte das nicht. Alles wurde jetzt Stalin in die Schuhe geschoben. Dabei haben die anderen mitgemacht. Ich fand das moralisch verwerflich. Und es hat in der Tat eine Weile gedauert, bis ich mich von Stalin befreite.

 

Waren Sie in der Partei?

Nein, aber 1954 habe ich dummerweise einen Antrag gestellt.

 

Wieso dummerweise?

Es genьgte den Genossen nicht, was ich von mir erzдhlte. Sie haben bei der Lomonossow-Universitдt angefragt, und es kam ein Papier aus Moskau, in dem stand, dass ich und mein Mann unter den Studenten eine trotzkistische Gruppe gebildet hдtten. Daraufhin ist mein Antrag abgelehnt worden. Da stand fьr mich fest: Nie wieder.

Друзья московского детства  Вальтраут Шелике и лучший шеф разведки ХХ века Маркус (Миша) Вольф встречаются через 70 лет на презентации книги Вальтраут. Меньше чем через два месяца, 9 ноября 2006 года, Маркуса Вольфа не станет. Третий за столом - Юрий Шелике, сын Вальтраут. Фотограф - Рольф Шелике, брат Вальтраут.

Эти фотографии были сделаны 18 сентября 2006 года в редакции газеты "Neues Deutschland", Берлин

 

Sie sind ab und an in die DDR gereist. Einmal auch, weil Ihr Bruder Rolf mit der Stasi Schwierigkeiten bekam. Dass es 1981 nicht zur Verhaftung kam Ц verdankte er das Ihrer Bekanntschaft mit Markus Wolf in Kindheitsjahren?

Nein, ьberhaupt nicht. Man nutzt nicht irgendwelche Bekanntschaften, man geht seinen Weg selbst.

Ich hatte, als die erste Verhaftung von Rolf drohte, ein Gesprдch mit einem Mann von der Staatssicherheit in Dresden. Ich erzдhlte unsere Geschichte, dass meine beiden Brьder noch sehr klein waren, als wir Ц im Krieg Ц von den Eltern getrennt, im Komintern-Heim ФWaldkurortУ, viele Kilometer von Moskau entfernt, lebten. Und dass besonders Rolf darunter gelitten hat. Ich, die дltere Schwester, konnte ihm die Mutter nicht ersetzen, die in Moskau sich am antifaschistischen Kampf beteiligte, die Reden von Hitler, Goebbels und anderen Nazi-Grцяen im Radio mitstenografierte und ьbersetzte. Auch nicht den Vater, der Aufrufe an die deutschen Soldaten verfasste. Jedenfalls hat dieser Mann am Ende des Gesprдches gesagt: ФSie haben Ihren Bruder gerettet. Ich weiя jetzt, zu welcher Familie er gehцrt.У Und er hat Rolf besser verstanden Ц als Kritiker, aber treuen Sozialisten. Drei Jahre spдter wurde er zwar dennoch verhaftet. Das Urteil ist aber schnell kassiert worden, und Rolf wurde in die Bundesrepublik ausgewiesen.

 

Sie haben sich als Neunjдhrige in Konrad Wolf verliebt?

Ja. Mein Vater war mit Friedrich Wolf befreundet. Konny war immer sehr nett, Mischa hдnselte mich ein bisschen. Ich habe die Kleidung der Wolfs-Jungen getragen, auch ihre Socken, obwohl ihre Fьяe grцяer waren als meine. Konny ging dann nach Deutschland zurьck. ФSo ein BlцdianУ, dachte ich damals.

Auch Ihre Eltern und Brьder gingen nach dem Krieg nach Deutschland. Warum Sie nicht?

Ich war 19. Ich hatte eine Rьge und glaubte, erst einmal beweisen zu mьssen, dass ich dem Sozialismus Ц oder dem, was ich damals dafьr hielt Ц treu ergeben bin.

  

 Ausdruck am Samstag, 4. November 2006

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